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15. Dezember 2020

Sprachforschung vs. Corona – Wie eine Forscherin auf die Krise reagiert

Wie gewonnen, so zerronnen

Als ich meine Stelle im Teilprojekt PP10 „Wahrnehmungen von und Einstellungen zu Varietäten und Sprachen an österreichischen Schulen” des Sonderforschungsbereichs „Deutsch in Österreich” am ersten März 2020 antrat, war für mich ein lang gehegter Berufstraum in Erfüllung gegangen: Ich bin Sprachwissenschaftlerin und kann Feldforschung betreiben! 2020 würde mein Jahr werden! Zuvor hatte ich noch extra als spät Berufene meinen Führerschein gemacht und mein erstes günstiges Gebrauchtauto gekauft, um gerüstet zu sein: Egal, ob in der Stadt oder auf dem Land, im Westen oder Osten, im Gebirge oder im Tal – ich würde überall hinkönnen, um Sprachaufnahmen für die Forschung zu sammeln.

Doch 16 Tage später, zack, der erste Lockdown. Dem Coronavirus war meine Freude über meine Arbeit selbstverständlich egal und es steht mit der empirischen Sprachwissenschaft offenbar auf dem Kriegsfuß: ein Virus, das sich besonders gut in Innenräumen verbreitet, wenn infizierte Menschen viel und laut reden (oder singen).

Die Fatale an der Sache ist: Besonders gut befüllte Innenräume findet das Virus in Schulen vor, weshalb diese während des ersten und zweiten Lockdowns geschlossen bzw. auf Distanzlehre umgestellt wurden.

Das „unmögliche“ Forschungsprojekt

Nun braucht unser Projekt aber gerade Oberstufenschulklassen für seine Forschung, um Videoaufnahmen von regulären Schulstunden zu sammeln. Der Zweck dieser Aufnahmen ist es, zu erforschen, welche Rolle Varietäten der deutschen Sprache, wie etwa Dialekte, und andere Sprachen, wie Türkisch und Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, im österreichischen Schulalltag spielen. Die Ergebnisse des Projekts sollen wichtige Anregungen für die Ausbildung und  Fortbildung von Lehrpersonen liefern, da diese in Österreich mit enormen sprachlichen Anforderungen konfrontiert sind: Zum einem sollen sie ihre Schüler und Schülerinnen bei ihrem aktuellen Sprachstand abholen und auf sie eingehen können und zum anderen sollten sie Modellsprecher und Modellsprecherinnen sein, die neben der geschriebenen auch die gesprochene Standardsprache vermitteln. Das Abholen der Lernenden in Bezug auf Sprache bedeutet diese langsam an die Standardsprache heranzuführen, egal, ob diese mit einem österreichischen Dialekt oder einer ganz anderen Sprache zuhause aufgewachsen sind. Der Grund dafür ist, dass in deutschsprachigen Ländern (im Gegensatz zu Norwegen beispielsweise (Røyneland 2009)) die Erwartung besteht, dass Schülern und Schülerinnen in der Schule (auch) standardnahe Formen des gesprochenen Deutsch und ihre situationsangemessene Verwendung vermittelt werden. Von Lehrenden als Modellsprecher und Modellsprecherinnen wird dabei erwartet, dass sie wissen, was die gesprochene Standardsprache ist. Eine schwierige Aufgabe, da in Österreich keine Einigkeit darüber besteht, was genau darunter zu verstehen ist (Buchner/Elspaß 2018, De Cillia/Ransmayr/Fink 2019). Den Lehrern und Lehrerinnen für die Bewältigung dieser komplexen Aufgaben mehr Hilfestellungen anzubieten, ist das Ziel von PP10.

Kommen wir zurück zu Corona:

Ja, Sie haben oben richtig gelesen, unser Projekt soll in den Schulen forschen, die im zweiten „harten” Lockdown bereits wieder auf Distanzlehre umgestellt wurden und nach den aktuellen Nachrichten auch danach noch bis auf Weiteres nicht in den regulären Präsenzunterricht zurückkehren werden.

Welche Optionen hat eine Nachwuchswissenschaftlerin nun, wenn die Basis ihrer geplanten Forschungsarbeit derart in Gefahr ist? In Panik geraten? Weniger sinnvoll, obwohl ich im ersten Lockdown oft nahe dran war. Die Dissertation und damit die zweite Phase des Projekts neu ausrichten? Ungern, weil der Vergleich von Sprachgebrauch mit Sprachwahrnehmungen und -einstellungen ein zentrales Anliegen von PP10 ist – und dazu braucht es nun einmal Aufnahmen tatsächlicher Interaktion im Klassenzimmer. Die Aufnahmen einfach verschieben? Das ist leider auch nur begrenzt möglich, da unser Projekt eine festgelegte Laufzeit hat….

Immer schön flexibel bleiben: Schulforschung digital?

Die im Moment beste Lösung für dieses Problem ist eine Mischung aus Aufschieben und Abändern: In unserem Projektteam lebt die Hoffnung, dass analog zum Sommersemester 2020 im Frühjahr 2021 wieder Präsenzunterricht an den Oberstufenschulen möglich sein wird und wir dann unsere Erhebungen in der Sekundarstufe II vor Ort durchführen können. Jedenfalls werden wir im Projekt einstweilen Online-Umfragen durchführen, da diese keinen persönlichen Kontakt erfordern und somit trotz Pandemie möglich sind. Für die Videoaufnahmen von Schulstunden haben wir ein Hygienekonzept erarbeitet, das es uns ermöglicht, geltende Corona-Maßnahmen im Präsenzunterricht einzuhalten, sobald dieser in der Oberstufe wieder stattfindet. Zur Not ließen sich die Aufnahmen von Schulstunden durch die Aufzeichnung von Schulunterricht via Videochat ersetzen, da wir ein datenschutzkonformes Vorgehen dafür erarbeiten konnten. Allerdings würden solche Videochataufnahmen eine authentische sprachliche Situation im Klassenzimmer nur eingeschränkt abbilden können und sind daher für unsere Forschungszeile nicht besonders geeignet.

Deshalb drücken Sie mir, dem gesamten Projektteam und natürlich auch sich selbst die Daumen, dass wir im Frühling in Österreich zur „Normalität” zurückkehren können.

Beispiellos tapfere Lehrkräfte, Schüler und Schülerinnen

Am Ende des letzten Sommers hatten wir also im Projekt ein möglichst kontaktloses Vorgehen erarbeitet, um trotz Corona forschen zu können, aber Teilnehmer und Teilnehmerinnen für unsere Studie hatten wir noch nicht. Wie würden die Lehrpersonen auf unser Anliegen reagieren? Im Frühjahr wusste niemand, wie der Schulunterricht im Herbst aussehen würde. Würde es überhaupt Unterricht geben? Wir entschlossen uns deshalb damals, den Oktober 2020 abzuwarten, um den Lehrpersonen Zeit zu geben, den ungewöhnlichen Schulstart erfolgreich hinter sich zu bringen.

Es stellte sich dann heraus, dass sowohl die Lehrkräfte als auch die Schüler und Schülerinnen an unseren Wunschschulen sich von der Pandemie weniger aus der Bahn werfen ließen, als wir befürchtet hatten: Ausgerechnet am Freitag, dem 13. November, kurz vor dem zweiten Lockdown bekamen wir tatsächlich die letzte noch notwendige Zusage einer Lehrerin zur Teilnahme an unserem Projekt, sollte im kommenden Frühling wieder regulärer Präsenzunterricht in der Oberstufe stattfindet.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen tapferen Lehrkräften sowie Schülern und Schülerinnen in Österreich von ganzem Herzen dafür bedanken, dass sie Sprachforschung trotz Corona ermöglichen wollen. Sie helfen nicht nur der Wissenschaft und damit uns allen, sie helfen im Fall des SFB-Projekts auch mir ganz persönlich, meine Forschungsträume zu verwirklichen! VIELEN, VIELEN DANK!

Literatur:

De Cillia, Rudolf; Ransmayr, Jutta; Fink, Ilona Elisabeth (2019): Österreichisches Deutsch macht Schule. Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm. Wien [u.a.]: Böhlau.

Buchner, Elisabeth; Elspaß Stephan (2018): Varietäten und Normen im Unterricht. Wahrnehmungen und Einstellungen von Lehrpersonen an österreichischen Schulen. In: ide- information zur deutschdidaktik 42 (4), S. 70–81.

Røyneland, Unn (2009): Dialects in Norway: catching up with the rest of Europe? In: International Journal of the Sociology of Language 2009 (196-197), S. 85. DOI: 10.1515/IJSL.2009.015.


Zitation
Rusch, Yvonne (2021): Sprachforschung vs. Corona – Wie eine Forscherin auf die Krise reagiert.
In: DiÖ-Online.
URL: https://www.dioe.at/artikel/2684
[Zugriff: 18.04.2024]