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15. Oktober 2021

Sprachforschung vs. Corona - Teil 2: Die Forschung siegt!

Nid lugg lo! (Vorarlberger Sprichwort)

Nachdem der erste und zweite Lockdown mich in schwere Zweifel gestürzt hatten, ob unser Forschungsprojekt jemals durchführbar sein würde, musste ich wählen: Aufgeben oder Alternativen suchen. Zusammen mit dem restlichen Team des Teilprojekts PP10 „Wahrnehmungen von und Einstellungen zu Varietäten und Sprachen an österreichischen Schulen“ habe ich mich, wie im Blogbeitrag vom letzten Jahr bereits geschildert, für Letzteres entschieden! Getreu einem Sprichwort aus meiner Heimat Vorarlberg: „Nid lugg lo!“ („Nicht lockerlassen!“).

Die Covid-19-Pandemie stellte wegen des Ausfalls des Präsenzunterrichts in den letzten beiden Schuljahren eine besondere Herausforderung für uns dar, da es unser Ziel ist, die Verwendung von Dialekt, Umgangssprache, Standardsprache und nichtdeutschen Muttersprachen während des Unterrichts in österreichischen Schulen unter anderem anhand von Videoaufnahmen von Schulstunden zu erforschen. Onlineunterricht via Videochat aufzuzeichnen wäre eine mögliche Alternative gewesen, aber wir möchten Forschungsergebnisse erzielen, die sich auf einen möglichst normalen Schulalltag im Klassenzimmer beziehen und nicht auf die Ausnahmesituation „Distance Learning“. Die Hoffnung für unser Projekt wuchs letzten November ironischerweise parallel zu den Infektionszahlen, als wir von zwei Lehrpersonen in Salzburg die Zusage bekamen, mit ihren Klassen an unserem Forschungsprojekt teilzunehmen, sobald wieder Präsenzunterricht möglich wäre. 

Mutierende Viren? Flexibel mutierende Datenerhebungen!

Nach den Semesterferien 2021 begann sich glücklicherweise abzuzeichnen, dass zumindest Unterricht im Schichtbetrieb für jeweils die Hälfte einer Schulklasse möglich sein würde. Deshalb packten wir unser Equipment ins Auto und legten los. Den Anfang machten nach den Osterferien zwei Schulklassen einer Schule in einer ländlicheren Region Salzburgs. Am Ende des Sommersemesters konnten wir noch eine Klasse in Salzburg Stadt aufzeichnen und in den kommenden Wochen wird noch eine weitere Schulklasse aus der Stadt teilnehmen, womit unsere Datenerhebungen vor Ort abgeschlossen wären.

Um möglichst flexibel die Sprachverwendung aller am Schulunterricht beteiligten Personen aufnehmen zu können, haben wir uns eine kompakte Audio- und Videoausrüstung bestehend aus einer Kamera und zwei Richtmikrofonen für die Schülerinnen und Schüler, einem Lavaliermikrofon und einer Kamera für die Lehrperson, einem Aufnahmegerät sowie zwei Stativen, an denen alles befestigt wurde, zusammengestellt. Dieses Equipment hat auch den Vorteil, dass es von nur einer Person rasch aufgebaut und bedient werden kann, wodurch zusätzliche Infektionsrisiken für die Schülerinnen und Schüler sowie Lehrpersonen vermieden werden.

Die Videoaufnahmen von Schulstunden im Präsenzunterricht stellen allerdings nur einen Teil unserer Erhebungen dar. Zusätzlich haben wir auch Interviews mit den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen geführt und eine Onlineumfrage ausfüllen lassen. Dieses Vorgehen ermöglicht uns nicht nur festzustellen, wie im Unterricht gesprochen wird, sondern auch warum so gesprochen wird. Da während des Schichtbetriebs im letzten Sommersemester noch ein Tag im Distance Learning vorgesehen war, haben wir versucht, diesen Umstand flexibel in unsere Erhebungen einzubauen. Für die Interviews und die Umfrage war es im Gegensatz zu den Videoaufnahmen nämlich nicht zwingend nötig, persönlich vor Ort zu sein, da wir nur Meinungen und Einschätzungen erfragen und keine natürlichen sprachlichen Interaktionen aufzeichnen wollten. Deshalb haben wir die Interviews teilweise während dieser Distance Learning-Tage via Videochat durchgeführt und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wenn nötig auch die Onlineumfrage am Computer zuhause bearbeiten lassen. Auf diese Weise konnten wir sowohl den teilnehmenden Schulklassen als auch uns Zeit ersparen und unnötigen physischen Kontakt während der Pandemie vermeiden.

An dieser Stelle möchten das Team von PP10 und ich uns nochmals ganz herzlich BEI DEN TEILNEHMENDEN SCHULKLASSEN BEDANKEN. Ihr seid unsere ganz persönlichen HELDINNEN UND HELDEN DER PANDEMIE, weil ihr uns trotz der Unruhe, die das Virus in das Schuljahr gebracht hat, in euren Klassen willkommen geheißen habt! Ohne euch könnten wir unser Projekt niemals erfolgreich abschließen. Dank euch können wir die erhobenen Daten nun gewissenhaft auswerten, um daraus Anregungen für die Ausbildung von Lehrpersonen und den Schulunterricht zukünftiger Generationen abzuleiten.

Wie es mit den Daten jetzt weiter geht

Durch die Aufzeichnung von Ton und Bild können wir die Sprachverwendung aller am Unterricht beteiligten Personen im Zusammenhang mit der Unterrichtssituation analysieren. Wir möchten unter anderem überprüfen, ob Lehrpersonen ihre Sprechweise verändern, je nachdem, ob sie an der Tafel einen Lehrvortrag halten oder auf eine Antwort eines Schülers oder einer Schülerin reagieren.

Es gibt beispielsweise Forschung zum Schwäbischen in Deutschland, die zeigt, dass eine Lehrperson, die privat eine Mundart verwendet, eher Standarddeutsch spricht, wenn sie eine Frage an die Schülerinnen und Schüler richtet, aber Dialekt nutzt, wenn sie emotional auf deren Antworten eingeht, um zu motivieren oder zu tadeln (Knöbl 2010). Außerdem kann Standarddeutsch zum Einsatz kommen, um zu markieren, dass gerade wichtiger Unterrichtsstoff besprochen wird, während der Dialekt zur Begrüßung, für Organisatorisches, oder zur Verständnissicherung eingesetzt wird, wie eine Arbeit aus der Schweiz nahelegt (Steiner 2008).

Diese Ergebnisse lassen sich allerdings nicht eins zu eins auf Österreich übertragen. In der deutschsprachigen Schweiz etwa liegt eine diglossische Sprachsituation vor. Diglossisch bedeutet, dass zwei sprachliche Varianten wie Dialekt und Standarddeutsch von den Sprecherinnen und Sprechern je nach Situation verwendet werden. Acht der neun Bundesländer Österreichs gehören allerdings zum bairischen Sprachraum, in dem von einer diaglossischen Sprachsituation ausgegangen wird. Diaglossisch bedeutet, dass neben Dialekt und Standarddeutsch auch Zwischenstufen existieren, die häufig als Umgangssprache bezeichnet werden und ebenfalls situationsspezifisch zum Einsatz kommen. Man wird also im größten Teil Österreichs mehr oder weniger Dialekt beziehungsweise Standarddeutsch sprechen und nicht nur das eine oder das andere.

Wir möchten anhand unserer Videoaufnahmen diese Forschungslücke in Bezug auf die diglossische auf der einen bzw. die diaglossische Sprachsituation auf der anderen Seite schließen, die sich auch auf den Sprachgebrauch in vielen österreichischen Schulen niederschlägt. Deshalb analysieren wir in einem nächsten Schritt, ob Lehrpersonen in ländlichen Gebieten Salzburgs und in der Stadt je nach Unterrichtssituation ihre Sprache verändern, ob sie mehr oder weniger Dialekt oder mehr oder weniger Standard sprechen. Sollten wir feststellen, dass beispielsweise die Sprachverwendung zwischen den Polen Dialekt und Standarddeutsch je nach Unterrichtssituation wechselt, dann wäre das ein Hinweis auf eine strategische Nutzung der unterschiedlichen Sprechweisen. Der Einsatz von Dialekt ist dann also mehr oder weniger bewusst gewählt und stellt eine Ressource dar, um verschiedene Unterrichtssituationen erfolgreich zu meistern (Knöbl 2010, Steiner 2008), beispielsweise um komplizierte Inhalte einfacher auszudrücken oder sich den Schülerinnen und Schülern emotional zuzuwenden.

Bleiben Sie also dran! Nächstes Jahr werden Sie hier im Blog erste konkrete Ergebnisse zu unseren Videoaufnahmen zur Sprachverwendung im Schulunterricht an österreichischen Schulen finden!

Literatur:

Knöbl, Ralf (2010): Changing codes for classroom contexts. In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 11, p.123-153.

Steiner, Astrid (2008): Unterrichtskommunikation. Eine linguistische Untersuchung der Gesprächsorganisation und des Dialektgebrauchs in Gymnasien der Deutschschweiz. 1. Auflage. Tübingen: Gunter Narr Verlag; Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG (Kodikas/Code Supplement, 29).


Zitation
Rusch, Yvonne (2021): Sprachforschung vs. Corona - Teil 2: Die Forschung siegt!.
In: DiÖ-Online.
URL: https://www.dioe.at/artikel/3055
[Zugriff: 18.04.2024]